Kinoptikum

MADAME SIDONIE IN JAPAN (OmU/DF)

Do 03.10. 
18:00frz. OmU 
So 06.10. 
19:00DF 

Behutsame Trauerarbeit inmitten fernöstlicher Frühlingsblüte

Filme, die vom Reisen handeln, haben oft rastlose Hauptfiguren – Suchende, Getriebene, die es an einen anderen Ort zieht, weil sie hoffen, dort endlich das zu finden, was ihnen womöglich fehlt. Bei Sidonie Perceval (Isabelle Huppert), der Protagonistin aus „Madame Sidonie in Japan“, entsteht dieser Eindruck hingegen zunächst nicht. Nur zögerlich verlässt sie ihre Wohnung und begibt sich mit bewusster Verspätung an den Pariser Flughafen. „Ich weiß nicht, ob ich fliegen will“, gesteht sie einer Airline-Mitarbeiterin, die das gar nicht allzu sehr zu interessieren scheint.
Noch weitere Male unterläuft Regisseurin Élise Girard, die das feinsinnige Drehbuch zusammen mit Maud Ameline und Sophie Fillières geschrieben hat, die Publikumserwartungen. Denn als Sidonie in der Millionenstadt Osaka landet, um eine sechstägige Promotour anzutreten, wird sie dort nicht mit urbaner Hektik konfrontiert, sondern erlebt ein verblüffend ruhig und friedlich anmutendes Umfeld.
Der Verleger Kenzo (Tsuyoshi Ihara) hat die Schriftstellerin anlässlich der Wiederveröffentlichung ihres Debütromans eingeladen. Sie soll ein paar Interviews geben; zudem will er ihr Schreine und Tempel in Kyoto zeigen. Zu einer wiederkehrenden Situation wird die gemeinsame Fahrt auf dem Rücksitz eines Wagens, bei der ein Chauffeur die beiden von A nach B befördert. Zuweilen wird dabei nur wenig gesprochen – doch das Knistern zwischen Sidonie und Kenzo erfüllt unbestreitbar den Raum; ihre Hände scheinen einander berühren zu wollen, werden allerdings höflich zurückgehalten.
Girard geht es bei der Darstellung des titelgebenden Schauplatzes nicht um eine dokumentarisch wirkende Landeserkundung. Vielmehr befasst sie sich mit einem individuellen Gefühl, das sie selbst empfand, als sie sich 2013 im Rahmen einer Pressereise zu ihrem ersten Kinofilm Belleville-Tokyo (der trotz des Titels komplett in Frankreich spielt) in Japan aufhielt. Nur am Rande werden hier die typischen Culture-Clash-Gags geboten, etwa wenn sich Sidonie schwer damit tut, die ungeschriebenen Regeln der Begrüßungsverbeugungen zu durchschauen. Im Mittelpunkt steht ein persönlicher Prozess, der ganz nach innen gerichtet ist. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, das fernab des Alltags plötzlich noch mal ganz anders durchdacht werden kann.
Und dann taucht Antoine (August Diehl) auf. Genauer gesagt: sein Geist. Denn Antoine, Sidonies Gatte, starb vor etlichen Jahren bei einem Autounfall, bei dem auch Sidonie im Wagen saß, aber keine (körperlichen) Verletzungen davontrug. Die Erscheinungen sorgen bei Sidonie zwar anfangs für einen gehörigen Schrecken; dennoch werden sie nicht als übersinnlicher Grusel inszeniert. Auch haben die Auftritte des Toten nichts Mystisch-Erhabenes an sich. Girard selbst vergleicht die Gestaltung des Geistes mit der von Rex Harrison interpretierten Figur in der Fantasy-Romanze Ein Gespenst auf Freiersfüßen (1947) von Joseph L. Mankiewicz. Entstanden sind die Geistersequenzen mit Greenscreen-Technik.
Antoine hat keinen festen Körper; er kann von Sidonie nicht berührt werden. Die Interaktionen zwischen der Heldin und dem Verstorbenen entwickeln rasch etwas Spielerisches. Eine kindliche Freude an der Möglichkeit, sich nach all der Zeit überraschenderweise noch einmal begegnen zu können und betont albernen Schabernack zu treiben (da nur Sidonie Antoine sehen kann), verleiht dem Film eine Leichtigkeit, die dennoch der Melancholie den nötigen Platz lässt. Sidonie hat seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr geschrieben; sie hat sich seither selbst kaum eine Chance gegeben, ihre Gefühle auszudrücken und anderen zu vermitteln.
Madame Sidonie in Japan kommt unaufgeregt daher, ohne große Themen zu scheuen. Leiser Humor und Introspektion werden stimmig kombiniert. Und zu all diesen Stärken kommt die besondere Aura von Isabelle Huppert, die hier als „die Frau aus dem Westen“ sowohl ihr Talent für Slapstick als auch für sanft-romantische Momente ausspielt. Mit Tsuyoshi Ihara und August Diehl hat sie zwei charismatische Leinwandpartner an ihrer Seite, mit denen jede Szene zu einem einnehmenden Austausch wird. (kino-zeit.de)

FSK 0
Originaltitel: 
Sidonie au Japan
Land/Jahr: 
F/D/JAP 2023
Länge:
95 Min.
Regie:
Élise Girard
Darsteller:
Isabelle Huppert, Tsuyoshi Ihara, August Diehl