MEMOIREN EINER SCHNECKE
(OmU/DF)Memoir of a Snail – AUS 2024, 94 Min. FSK 12
Regie: Adam Elliot
Ein herzerweichendes, poetisches Filmjuwel in Plastilin
Adam Elliot erzählt mit seinem zweiten Langfilm eine jener Geschichten, die noch weit mehr sind, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Wer angesichts des Titels „Memoiren einer Schnecke“ eine verspielte Tiergeschichte oder die knetanimierte Variante einer Kinderbuchverfilmung erwartet, wird schon nach wenigen Minuten eines Besseren belehrt – und vielleicht sogar im besten Sinne überrumpelt. Denn was der australische Regisseur, Drehbuchautor und Stop-Motion-Künstler hier vorlegt, ist ein gleichermaßen tieftrauriges wie tröstendes Porträt einer Frau, die sich in sich selbst zurückzieht.
Im Zentrum steht Grace Pudel, deren Name nicht zufällig an das englische Wort für Pfütze erinnert. Ihr Leben ist von allerlei Schicksalsschlägen geprägt, ihre Welt entsprechend gedämpft und getrübt, farblich wie emotional. Die Außenseiterin sammelt Schnecken wie andere Menschen besondere Erinnerungsstücke. Nachdem sie diese zu Beginn des Films in die Freiheit entlässt, werden sie zu passiven Zeugen, stummen Zuhörern und vielleicht auch symbolischen Spiegelbildern ihrer Lebenserzählung.
Die beginnt in dem Moment, den man gemeinhin als Anfang bezeichnet, der bei Grace jedoch sofort das Ende vieler Möglichkeiten markiert: Sie und ihr Zwillingsbruder Gilbert werden bereits mit dem ersten Atemzug zu Halbwaisen. Ihre Mutter verstirbt bei ihrer Geburt – und die Familie, die hätte sein können, vergeht schon im Entstehen. Der Vater – einst Straßenkünstler in Paris – wird wenig später von einem Betrunkenen angefahren. Fortan sitzt er im Rollstuhl, findet keine Arbeit mehr – und verliert sich selbst mehr und mehr im Alkohol.
Adam Elliot zeigt diese Szenen mit großer Zärtlichkeit, ohne die Härte zu beschönigen. Sein Knetanimationsstil ist – wie schon im Vorgängerfilm Mary & Max – geprägt von sichtbaren Fingerabdrücken und bewusst grober Textur, rückt das Unperfekte ins Zentrum und erlaubt eine seltene Nähe zu den Figuren. Gerade weil in Memoiren einer Schnecke nichts glatt ist, wirken die Bilder bei aller Überzeichnung glaubwürdig. Man sieht die Brüchigkeit nicht nur, man spürt sie. Und die Brüche in Graces Leben setzen sich unentwegt fort: Auf den Tod des Vaters folgt die Trennung von ihrem Bruder. Was bis dahin ein gemeinsames Durchkämpfen war, wird nun zur Vereinzelung.
Die Pflegeeltern, bei denen Grace landet, entwickeln sich bald zu hedonistischen Aussteigern mit Faible für Swingerpartys in Schweden, während Gilbert in einer religiösen Gemeinschaft mit rigidem Weltbild und wenig Raum für Individualität unterkommt. Was bei weniger geschickter Regie zur Karikatur geraten könnte, funktioniert hier auf charmante Weise als schräges Gegengewicht zu Stille und Schmerz der Hauptfigur. Adam Elliot nutzt den absurden Humor, das Skurrile für narrative Atempausen. Sie ermöglichen Distanz, kurze Momente der Erleichterung, erzeugen aber keine Entfremdung – und immer bleibt das Menschliche, das nun mal selbst oft genug tragikomisch ist, im Vordergrund.
Besonders berührend ist, wie der Film Graces zunehmendes Schweigen mit dem Erwachsenwerden nicht als Defizit, sondern als Konsequenz ernst nimmt. Ihre Sammelleidenschaft wird zur Überlebensstrategie. Die Schnecken, stumm und unbeweglich, stehen sinnbildlich für ihren Wunsch nach Beständigkeit in einer Welt, die ihr zu viele Sicherheiten entzogen hat. Die Wohnung wird zum Gehäuse, die Ordnung der Dinge zur Selbstbehauptung. Und doch: Memoiren einer Schnecke führt seine Protagonistin nicht nur in dieses hermetische System ein, sondern auch langsam wieder hinaus.
Denn in dieses sorgsam strukturierte Leben platzt irgendwann Pinky – deutlich älter, lauter, bunter, unkonventioneller, mit schiefem Lächeln und exorbitanter Lebensfreude. Adam Elliot integriert sie, zum Glück, nicht als klassische Retterin, sondern als Störimpuls, der zeigt, dass Veränderung immer möglich bleibt. Denn so ein Störimpuls reicht manchmal schon, um einen Prozess in Gang zu setzen. Am Ende steht kein großer Triumph, kein kathartischer Umbruch, sondern ein leiser Fortschritt: eine Frau, die zu erzählen beginnt, die Schnecken freilässt, die sich – ein wenig – aus ihrem eigenen Schneckenhaus hinauswagt.
So feiert Memoiren einer Schnecke nicht nur jene, die aus der Norm fallen, sondern erinnert auch leise, aber eindringlich daran: Entscheidend ist nicht, was uns zustößt – sondern wie wir damit umgehen. (kino-zeit.de)