IN DIE SONNE SCHAUEN
D 2025, 159 Min. FSK 16
Regie: Mascha Schilinski
mit Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Luise Heyer
Wenn Wände erzählen: Epochales Kino durch die Zeiten
Viel war im Vorfeld des Filmfestivals von Cannes 2025 über den einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag In die Sonne schauen / The Sound of Falling spekuliert worden: Es handelt sich um den erst zweiten Langfilm der Regisseurin Mascha Schilinski. Ihr Erstling Die Tochter debütierte zwar 2017 im Wettbewerb der Berlinale. Trotz dieses prominenten Festivalauftritts ist Schilinski aber in der Riege der deutschen Filmemacher*innen noch die große Unbekannte. So war bereits die Einladung an die Croisette und noch dazu in den Wettbewerb ein erstes Ausrufezeichen, das In die Sonne schauen setzte. Das zweite ist zweifelsohne der Film selbst: Der schlug gleich zum Auftakt derart ein, wie man es in den letzten Jahren selten schon am ersten Wettbewerbstag erlebt hat.
Über rund 100 Jahre und vier Generationen von (vor allem) Frauen spannt Schilinski einen assoziativen, magisch-realistischen, formal wie erzählerisch gewagten Bogen, der ausschließlich in einen Gehöft in der Altmark in Sachsen-Anhalt angesiedelt ist und die Geister der Vergangenheit und der Gegenwart durchmisst. Virtuos wechselt der Film immer wieder die Zeitebenen und -perspektiven, die Erzählstimmen und auch die formalen Mittel: Die Bandbreite reicht von Daguerreotypien und verrauschten Homevideoaufnahmen über Kinobilder von erhabener Größe und Schönheit bis hin zu abstrakt anmutenden Passagen. Schilinski wechselt unversehens in die Unschärfe oder lässt die Bilder Kopf stehen, weil das ja die Art und Weise ist, wie wir eigentlich die Welt sehen würden, wäre da nicht der Kopf, der das verkehrte Bild erst wieder umdreht. Auf der Tonebene wiederum atmet der Film buchstäblich: Er knistert, brummt und dröhnt und wird so zu einem lebendigen Organismus, zu einer ebenso körperlichen wie sinnlichen Erfahrung, zu Meta-Kino, das weit über die Leinwand hinaus eine ungeheure Wirkung entfaltet.
Die Handlung dieses überaus assoziativen Bilder- und Tonreigens, dieses Kaleidoskops von Perspektiven und Konstellationen auch nur annähernd sinnvoll zu beschreiben, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit und würde diesem ebenso vielschichtig-komplexen wie meditativen Werk auch nicht gerecht. Überhaupt hat man nach dem Verlassen des Kinos den drängenden Wunsch, diesen Film ein zweites, ein drittes und am besten noch ein viertes Mal zu sehen. Man würde zweifellos dabei immer wieder neue Details, neue Verbindungen erkennen, aufregende Entdeckungen machen. Das Bild, das man sich von dem Film gemacht hat, würde sich verändern. Klar bliebe aber sicherlich: In die Sonne schauen ist ein Meisterwerk, ein Solitär des Kinos, ein Monstrum von einem Film, das sich wie gesagt beständig verändert, bis ins Unermessliche wächst.
Stets geht es aber um die Frauen, die diesen alten Vierseithof bewohnen, die hier zu ganz unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Staaten (im Deutschland des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus, in der DDR und schließlich in der wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland) Kinder sind, heranwachsen. Sie bilden eine durch die Zeiten miteinander verbundene Kette von Schicksalen, nicht notwendigerweise verwandt und doch wie durch ein unsichtbares Band verknüpft zu einem Bund, einer Schwesternschaft des Entdeckens, Erleidens und Erduldens. Was diese Frauen über die Generationen hinweg miteinander verbindet, sind ähnliche Erfahrungen und sich wiederholende Muster. Es geht um Ausbeutung, Anpassung und Unterdrückung (auch der eigenen Gefühle, Nöte und Bedürfnisse), um Lebenslust und Todessehnsucht, um die stillen Schreie gegen die Unterdrückung. Sie leben in einem patriarchal-autoritären System, das bevölkert wird von den Geistern der Vergangenheit, in einem Zwischenreich zwischen dem Jetzt und dem Reigen des Vergangenen und der Verstorbenen, die hier ganz selbstverständlich in die Gegenwart hinein wirksam sind.
Am Ende erheben sich nacheinander zwei Gestalten während eines gewaltigen Sturms in die Lüfte. Sie schweben in einem Moment von bizarrer Schönheit inmitten des um sie stattfindenden Chaos über dem Boden, über den Dingen, über den Lasten und Sorgen, die sie niederdrücken. Und ganz ähnlich fühlt man sich nach dem Verlassen des Kinos. Man hat all die Schwere gesehen, die Geister der Vergangenheit, das Chaos und all das Böse, was Menschen widerfahren kann oder was sie sich gegenseitig antun. Und doch lässt In die Sonne schauen einen für Momente über dem Boden schweben. (kino-zeit.de)